Sachverhalt:

Mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 wurde dem Gesetzgeber aufgegeben, die Regelbedarfe nach dem Zweiten (SGB II) und dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB II und XII) verfassungskonform neu zu bemessen.

Einen besonderen Stellenwert hatte das Bundesverfassungsgericht den Bedarfen von

Kindern und Jugendlichen beigemessen.

Damit wurde das Thema Kinderarmut erneut aktuell und in der Folge neben der Neuberechnung des Regelbedarfs die stärkere Förderung der Kinder und

Jugendlichen über das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket gesetzlich verankert.

 

Beschäftigt man sich vertieft mit dem Thema Armut, ist zunächst zu klären, was denn unter dem Armutsbegriff verstanden wird.

 

I.         Armut und Armutsbegriff

 

Armut ist kein feststehender Begriff. Er unterliegt politischen, gesellschaftlichen

oder wissenschaftlichen Definitionsprozessen, ebenso wie die Festlegung von Armutsgrenzen zur Messung von Armut.

 

In Deutschland und vielen europäischen Ländern liegt das durchschnittliche

Wohlstandsniveau über dem rein physischen Existenzminimum. Dieses physische Existenzminimum wird als absolute Armut beschrieben und meint eine existenzielle Notlage, in der nicht genügend Nahrung, Wasser, Obdach, Kleidung zum physischen Überleben vorhanden sind. Diese Form der Armut ist in Entwicklungsländern verbreitet und kommt in hochentwickelten Industrieländern –außer z.B. bei obdachlosen Menschen- kaum vor.

 

In Deutschland und Europa wird daher von dem Begriff der relativen Armut ausgegangen. Diese Definition geht davon aus, dass Armut eine auf den durchschnittlichen Lebensstandard bezogene Benachteiligung ist.

In der Diskussion um Armutslagen hat der Europäische Rat bereits im Jahr 1985 eine

Definition geprägt, wonach Personen dann als arm gelten, „wenn sie über so geringe

(materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum

annehmbar ist“ (Europäischer Rat, 1985).

 

II.        Berechnung relativer Armutsgrenzen

 

In der Ermittlung von relativer materieller Armut wird der „Median des Nettoäquivalenzeinkommens“ zu Grunde gelegt. Diese Methode weicht vom einfachen Durchschnittseinkommen ab und weist genauere und praxisnähere Werte aus.

 

Beispiel:                        9 Haushalte mit einem Einkommen von 1.000 €

                                    1 Haushalt mit einem Einkommen von 1 Mio. €

           

Der Durchschnitt ist ein Einkommen von 100.900 €

Der Median ist ein Einkommen von 1.000 €.

 

Dieses Nettoäquivalenzeinkommen ist das Einkommen, das im Mittel einem alleinlebenden Erwachsenen zur Verfügung steht.

2009 lag das jährliche Nettoäquivalenzeinkommen bei 18.585 € jährlich.

 

Die Europäische Union (EU) verwendet zur weiteren Berechnung des Nettoäquivalenzeinkommens von Haushalten eine von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) entwickelte Skala. Diese unterstellt höhere Kostenersparnisse in Mehrpersonenhaushalten und setzt daher niedrigere Gewichtungen für die weiteren Haushaltsmitglieder an. Dem Haushaltsvorstand wird 100 % des Nettoäquivalenzeinkommens zugestanden, Haushaltsangehörigen ab 14 Jahren 50 % und Kindern bis zu 14 Jahren 30 %.

 

Laut Definition des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung gilt der als arm, dessen Einkommen max. 60 % dieses Nettoäquivalenzeinkommens beträgt.

Das entspricht auch der europaweiten Anwendung.

 

Andere Grenzen sprechen bei 60 % von Armutsgefährdung und bei 50 % von dem Existenzminimum.

 

Bezogen auf das monatliche Einkommen sieht der Überblick wie folgt aus:

 

Personenkreis

Armutsgrenze /
- gefährdung

Existenzminimum

 

Haushaltsvorstand

929,30 €

774,42 €

weiteres Haushaltsmitglied ab 14 Jahren

464,65 €

387,21 €

Kinder bis 14 Jahren

278,78 €

232,33 €

 

 

III.      Wie viel Kinder leben in Armut ?

 

In der Bundesrepublik liefert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) das Datenmaterial zur Kinderarmut. Wie dargestellt ist der eine Faktor die Ermittlung der Einkommenszahlen, die die Grundlage des Nettoäquivalenzeinkommens sind. Der andere Faktor ist die Erhebung, wie viel Menschen denn von welchem Einkommen leben.

Das DIW wendet dazu das „Sozioökonomische Panel“ an, in dessen Rahmen regelmäßig tausende Haushalte repräsentativ befragt werden.

 

2009 wurde auf dieser Grundlage errechnet, dass 16,3 % aller jungen Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen aufwachsen. Nach einer Neubewertung der Befragungsergebnisse wurde diese Zahl im Mai 2011 um die Hälfte nach unten korrigiert (8,3 %). Auslöser war, dass immer mehr Befragte Angaben zur Einkommenssituation verweigert hatten.

 

Eine dritte Zahl zur Kinderarmut basiert auf der Anzahl an jungen Menschen, die einen Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben. In Hochrechnungen wird dabei von 2,5 Mio. Kindern und Jugendlichen ausgegangen. Das entspricht einem Anteil von ca. 12 % an allen 0 – 25jährigen.

 

 

IV.       Kommunale Erhebungsmöglichkeiten

 

Die Messung von Armut und sozialen Lebenslagen auf der kommunalen Ebene unterscheidet sich von der Messung auf Länder-, Bundes- oder europäischer Ebene zum einen in der Verfügbarkeit von Daten, zum anderen in der Aktualität und Verwertbarkeit.

 

Verfügbarkeit

Die Ermittlung von Armutsquoten in einer Stadt/einem Landkreis auf der Grundlage von verfügbarem Haushaltseinkommen setzen eigene repräsentative Befragungen voraus. Dies ist mit entsprechendem Kostenaufwand verbunden und beinhaltet das Risiko, dass aufgrund der Verweigerung von Angaben die Ergebnisse nicht aussagekräftig sind.

Daten z.B. aus dem Mikrozensus oder anderen bundesweiten Erhebungen stehen kleinräumig nicht zur Verfügung. Das gilt auch für die derzeitig stattfindenden Zensus.

Daher wird zur Messung von Armut auf der kommunalen Ebene in der Regel nur auf Daten zu den sozialen Transferleistungen zurückgegriffen.

 

Aktualität

Die kommunalen Daten liegen –bis auf wenige Ausnahmen- für das Jahr 2010 vor. Einzelne Daten, z.B. der Agentur für Arbeit, werden aktuell jeweils zum Monatsende geliefert.

 

Landes- oder bundesweite Erhebungen bzw. Auswertungen beziehen sich auf weiter zurückliegende Zeiträume (2008, 2009). Überregional verwertbare Daten zum Wohngeldbezug liegen überhaupt nicht vor, da sich in den zurückliegenden Jahren mehrfach die Voraussetzungen zum Wohngeldbezug geändert hatten.

 

 

V.        Datenlage Landkreis Coburg

 

Zur Definition von Kinderarmut im Landkreis Coburg wird auf die vorliegenden Daten zu sozialen Leistungen zurück gegriffen:

-                    Bezug von Transferleistungen nach dem SGB II

-                    Bezug von Wohngeld bzw. Lastenzuschuss

-                    Übernahme der Gebühren für die Kindertagesbetreuung, sowie

-                    Verschuldete Familien in der Sozialpädagogischen Familienhilfe.

 

2010 lebten 1.154 unter 18 jährige in Haushalten, die Wohngeld oder einen Lastenzuschuss erhielten; weitere 987 Minderjährige lebten in Familien mit SGB II Bezug.

 

Gemessen an ca. 15.000[1] im Landkreis lebenden Kindern und Jugendlichen, entspricht dies einer Kinderarmutsquote von 14,3 %. Sie liegt damit um mehr als 2 Prozentpunkte über dem bundesdeutschen Durchschnitt.

 

Daten zu Kinderarmut in Familien, die ihren Lebensunterhalt mit eigenem Einkommen bestreiten, liegen aus den in Pkt. IV erläuterten Gründen nicht vor.

Dennoch kann auf zwei weitere Datenquellen bzw. qualitativen Problemanzeigen zurück gegriffen werden, um zu verdeutlichen, dass auch Kinder außerhalb sozialer Transferleistungen mit Armutsproblemen konfrontiert sind.

 

Familien mit geringem Einkommen

 

Die Übernahme von Gebühren zum Besuch von Kindertageseinrichtungen richtet sich nach den Einkommensgrenzen des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII).

 

Danach sind diese Gebühren ganz oder teilweise zu übernehmen, wenn das Einkommen unterhalb im SGB XII festgelegter Grenzen liegt. Konkret heißt das, dass

-neben den Kosten für die Unterkunft- 728 € für den Haushaltsvorstand und 255 € für jeden weiteren Haushaltsangehörigen unterschritten werden müssten, um die Kinderbetreuungskosten zumindest teilweise erstattet zu bekommen.

 

Beispiel:

Ein Ehepaar mit 2 gemeinsamen Kindern zahlt 423 € Miete. Für den Haushaltsvorstand werden 728 €, für den anderen Elternteil und die 2 Kinder zusammen 765 € (3 x 255 € Familienzuschlag). Die Einkommensgrenze für die Übernahme der Kinderbetreuungskosten liegt in diesem Fall bei 1.916 €[2].

 

 

In 2010 haben von 482 Kindern in Kindertagesstätten, in denen die Kosten für das Mittagessen übernommen wurden, 56 keinen Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepakets. Diese Familien erfüllen also die Voraussetzungen für SGB II-Leistungen, Wohngeld und Kinderzuschlag nicht, gelten aber –siehe Beispielsrechnung- als arm.

Hochgerechnet würde das bedeuten, dass 1,4 % der im Landkreis lebenden 0-6 jährigen Kinder[3] in Familien mit geringem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze leben.

 

Überschuldete Familien

 

Die Sozialpädagogische Familienhilfe der Caritas wird insbesondere dann in Familien eingesetzt, wenn der Erziehungshilfebedarf an eine Verschuldungsproblematik gekoppelt ist.

Die Caritas war in 2010 in 21 Familien eingesetzt, auf die diese Beschreibung zutrifft.

75 % der Familien standen (und stehen) im Leistungsbezug nach SBG II oder Wohngeldgesetz, 25 % leben vom Erwerbseinkommen der Eltern.

Die Armutsproblematik in der Familie unterschied sich nicht, da das „überschüssige“ Geld aus dem Erwerbseinkommen nicht den Kindern zugute kam, sondern zur Schuldenregulierung eingesetzt werden musste.

 

Aus dieser Erhebung lässt sich keine statistisch verwertbare Größe ableiten. Sie ist allenfalls ein Blitzlicht auf einen ebenfalls der Armut zuzurechnenden Personenkreis.

 

VI.       Auswirkungen von Armut – grundsätzliche Erkenntnisse

 

„Frühe und anhaltende familiäre Armut bestimmt die wesentliche Lebenssituation der Mädchen und Jungen und wirkt sich in allen Lebenslagen aus.“

 

„Je früher und je länger Kinder unter Armutsbedingungen aufwachsen, desto größer sind die negativen Auswirkungen auf ihren Entwicklungsverlauf und die Zukunftschancen.“

 

„Die Entwicklung der Kinder zeigt sich sehr differenziert, es gibt keine Automatismen zwischen familiärer Armut und kindlichen Defiziten, aber enge Verbindungen.“

 

Auszüge aus der AWO-ISS-Langzeitstudie „Kinder- und Jugendarmut“

 

 

Mögliche Auswirkungen von Armut sind Fehl- und Mangelernährung, psychische Störungen u.a. aufgrund von Stress, motorische Störungen, Übergewicht, Sprachentwicklungsstörungen, Entwicklungsrückstände, eine defizitäre Förderung durch das Elternhaus oder beengte Wohnverhältnisse. Langfristige gesundheitliche Schädigungen oder problematische Schulverläufe sind Folgen dessen.

 

Aber: Armut kann zwar negative Konsequenzen für die Entwicklung von Kindern haben. Ob es aber tatsächlich zu Problemen kommt, hängt von weiteren Faktoren ab. Zum einen korrelieren Armut und niedriger Bildungsgrad, psychische Erkrankung oder Überforderung und weitere Risikofaktoren miteinander und lösen gehäuft erst in der Summe negative Wirkungen aus. Zum anderen wirken Schutzfaktoren wie ein positives Temperament oder eine enge und tragfähige Beziehung zu den Eltern mildernd auf die Folgen materieller Armut.

 

VII.     … und wie sieht es im Landkreis Coburg aus ?

 

Es gibt keine repräsentativen Zahlen zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Kinderarmut –weder bundesweit, noch kleinräumig.

Die in Pkt. VI beschriebenen Auswirkungen basieren auf Studien. Unzweifelhaft sind diese Erkenntnisse deshalb auch auf den Landkreis Coburg übertragbar.

 

Weitere materielle Hilfen

 

 

 

 

Alleinerziehende mit einem Kind unter 12 Jahren können –soweit der andere Elternteil keinen oder keinen ausreichenden Unterhalt zahlt- für die Dauer von max. 72 Monaten Unterhaltsvorschuss-leistungen beantragen. Für unter 6-jährige werden dabei 133 €, für 6 – 12-jährige 180 € gezahlt.

 

Wenn das Einkommen der Eltern nicht ausreicht und der junge Mensch keine Rücklagen hat, kann für den Besuch von Berufsfachschulen, Fachschulen, Berufsaufbauschulen, Berufsoberschulen und –unter bestimmten Voraussetzungen- weiterführenden Schulen Ausbildungsförderung beantragt werden. Die maximale Fördersumme beträgt monatlich 216 € bei Besuch einer Berufsfachschule bis hin zu 597 € für Schüler/-innen einer Akademie.

 

Rückwirkend zum 01.01.2011 können Familien mit SGB II-, Wohngeld- und/oder Kinderzuschlagbezug Leistungen aus dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket beantragen.

Dabei werden z.B. das Mittagessen in Schule und Kindergarten, Ausflüge und die Vereinsmitgliedschaft bezuschusst. Die genauen Leistungen sind der Anlage 1 zu entnehmen. Aussagekräftige Zahlen zur Inanspruchnahme liegen derzeitig noch nicht vor.

 

Für Kinder, die an Schulfahrten, Ferienmaßnahmen und –betreuungen teilnehmen, kann ein Individualzuschuss zu den Kosten bei der Kommunalen Jugendarbeit des Landkreises Coburg beantragt werden. Voraussetzung ist, dass das Familieneinkommen 972 € für die Eltern plus 294 € für jedes Kind nicht überschreitet.

 

Neben stadt- und gemeindebezogenen Hilfen sind in Stadt und Landkreis Coburg 3 Vereine aktiv, Familien in prekären Situationen zu unterstützen: die Aktion Sterntaler, der Verein für Jugend und Familie Stadt und Landkreis Coburg und der neugegründete Verein „Hilfe für Nachbarn“. Diese Vereine werben Spendengelder ein, die unbürokratisch Familien in Notsituationen zukommen.

 

Immaterielle Unterstützung

 

Die Palette an Angeboten im Landkreis Coburg reicht von den Frühen Hilfen der KoKi[4] und den Netzwerkpartnern aus Jugendhilfe, Medizin und Bildung über den von den Städten und Gemeinden vorbildlich umgesetzten Ausbau der Kinderbetreuung, der Mittagsbetreuung an Schulen und den offenen und gebundenen Ganztagsschulen. Sie setzt sich über die Angebote der Kommunalen Jugendarbeit, des Kreisjugendrings, der zahlreichen Vereine und Verbände und nicht zuletzt der Gemeindejugendpfleger fort. Der ASD ist vor Ort, im Sozialraum, tätig und damit nah an der Lebenswelt der Familien.

 

Dieses „Netz“ ist nicht wegen der Auswirkungen von Kinderarmut entstanden, sondern basiert auf dem grundsätzlichen Auftrag der Jugendhilfe 

 

…… junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen….

…. dazu bei(zu)tragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien …. zu erhalten oder zu schaffen.[5]

 

und richtet sich somit an alle Kinder und ihre Eltern. Aber all diese Angebote und Aktivitäten mindern die psychosozialen Auswirkungen von Armut.

 

 



[1] Bevölkerungsstand am 31.12.2009: 15.193 unter 18jährige

[2] Die Armutsgrenze liegt in dieser Familienkonstellation bei 1.951 €.

 

[3] Am 31.12.2009 lebten 4.056 0-6 jährige Kinder im Landkreis Coburg.

[4] Koordinierende Kinderschutzstelle

[5] § 1 Abs. 3 SGB VIII