Sitzung: 12.07.2011 Ausschuss für Jugend und Familie
Vorlage: 239/2011
Sachverhalt:
Mit Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 wurde dem Gesetzgeber aufgegeben,
die Regelbedarfe nach dem Zweiten (SGB II) und dem Zwölften Sozialgesetzbuch
(SGB II und XII) verfassungskonform neu zu bemessen.
Einen besonderen
Stellenwert hatte das Bundesverfassungsgericht den Bedarfen von
Kindern und
Jugendlichen beigemessen.
Damit wurde das
Thema Kinderarmut erneut aktuell und in der Folge neben der Neuberechnung des
Regelbedarfs die stärkere Förderung der Kinder und
Jugendlichen über
das sogenannte Bildungs- und
Teilhabepaket gesetzlich verankert.
Beschäftigt man sich
vertieft mit dem Thema Armut, ist zunächst zu klären, was denn unter dem Armutsbegriff
verstanden wird.
I. Armut
und Armutsbegriff
Armut ist kein
feststehender Begriff. Er unterliegt politischen, gesellschaftlichen
oder
wissenschaftlichen Definitionsprozessen, ebenso wie die Festlegung von
Armutsgrenzen zur Messung von Armut.
In Deutschland und
vielen europäischen Ländern liegt das durchschnittliche
Wohlstandsniveau
über dem rein physischen Existenzminimum. Dieses physische Existenzminimum wird
als absolute Armut beschrieben und meint eine existenzielle Notlage, in
der nicht genügend Nahrung, Wasser, Obdach, Kleidung zum physischen Überleben
vorhanden sind. Diese Form der Armut ist in Entwicklungsländern verbreitet und
kommt in hochentwickelten Industrieländern –außer z.B. bei obdachlosen
Menschen- kaum vor.
In Deutschland und
Europa wird daher von dem Begriff der relativen Armut ausgegangen. Diese
Definition geht davon aus, dass Armut eine auf den durchschnittlichen
Lebensstandard bezogene Benachteiligung ist.
In der Diskussion
um Armutslagen hat der Europäische Rat bereits im Jahr 1985 eine
Definition
geprägt, wonach Personen dann als arm gelten, „wenn sie über so geringe
(materielle,
kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise
ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum
annehmbar ist“ (Europäischer Rat, 1985).
II. Berechnung
relativer Armutsgrenzen
In der Ermittlung
von relativer materieller Armut wird der „Median des Nettoäquivalenzeinkommens“
zu Grunde gelegt. Diese Methode weicht vom einfachen Durchschnittseinkommen ab
und weist genauere und praxisnähere Werte aus.
Beispiel: 9
Haushalte mit einem Einkommen von 1.000 €
1 Haushalt mit einem
Einkommen von 1 Mio. €
Der
Durchschnitt ist ein Einkommen von 100.900 €
Der Median ist
ein Einkommen von 1.000 €.
Dieses
Nettoäquivalenzeinkommen ist das Einkommen, das im Mittel einem alleinlebenden
Erwachsenen zur Verfügung steht.
2009 lag das
jährliche Nettoäquivalenzeinkommen bei 18.585 € jährlich.
Die Europäische
Union (EU) verwendet zur weiteren Berechnung des Nettoäquivalenzeinkommens von Haushalten
eine von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
entwickelte Skala. Diese unterstellt höhere Kostenersparnisse in
Mehrpersonenhaushalten und setzt daher niedrigere Gewichtungen für die weiteren
Haushaltsmitglieder an. Dem Haushaltsvorstand wird 100 % des
Nettoäquivalenzeinkommens zugestanden, Haushaltsangehörigen ab 14 Jahren 50 %
und Kindern bis zu 14 Jahren 30 %.
Laut Definition des
Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung gilt der als arm, dessen
Einkommen max. 60 % dieses Nettoäquivalenzeinkommens beträgt.
Das entspricht auch
der europaweiten Anwendung.
Andere Grenzen
sprechen bei 60 % von Armutsgefährdung und bei 50 % von dem Existenzminimum.
Bezogen auf das
monatliche Einkommen sieht der Überblick wie folgt aus:
Personenkreis |
Armutsgrenze
/ |
Existenzminimum |
Haushaltsvorstand |
929,30 € |
774,42 € |
weiteres Haushaltsmitglied
ab 14 Jahren |
464,65 € |
387,21 € |
Kinder bis 14 Jahren |
278,78 € |
232,33 € |
III. Wie
viel Kinder leben in Armut ?
In der
Bundesrepublik liefert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) das
Datenmaterial zur Kinderarmut. Wie dargestellt ist der eine Faktor die
Ermittlung der Einkommenszahlen, die die Grundlage des
Nettoäquivalenzeinkommens sind. Der andere Faktor ist die Erhebung, wie viel
Menschen denn von welchem Einkommen leben.
Das DIW wendet dazu
das „Sozioökonomische Panel“ an, in dessen Rahmen regelmäßig tausende Haushalte
repräsentativ befragt werden.
2009 wurde auf
dieser Grundlage errechnet, dass 16,3 %
aller jungen Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen aufwachsen. Nach
einer Neubewertung der Befragungsergebnisse wurde diese Zahl im Mai 2011 um die
Hälfte nach unten korrigiert (8,3 %).
Auslöser war, dass immer mehr Befragte Angaben zur Einkommenssituation
verweigert hatten.
Eine dritte Zahl zur
Kinderarmut basiert auf der Anzahl an jungen Menschen, die einen Anspruch auf
Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben. In Hochrechnungen wird
dabei von 2,5 Mio. Kindern und Jugendlichen ausgegangen. Das entspricht einem Anteil
von ca. 12 % an allen 0 –
25jährigen.
IV. Kommunale
Erhebungsmöglichkeiten
Die Messung von
Armut und sozialen Lebenslagen auf der kommunalen Ebene unterscheidet sich von
der Messung auf Länder-, Bundes- oder europäischer Ebene zum einen in der
Verfügbarkeit von Daten, zum anderen in der Aktualität und Verwertbarkeit.
Verfügbarkeit
Die Ermittlung von
Armutsquoten in einer Stadt/einem Landkreis auf der Grundlage von verfügbarem
Haushaltseinkommen setzen eigene repräsentative Befragungen voraus. Dies ist
mit entsprechendem Kostenaufwand verbunden und beinhaltet das Risiko, dass
aufgrund der Verweigerung von Angaben die Ergebnisse nicht aussagekräftig sind.
Daten z.B. aus dem
Mikrozensus oder anderen bundesweiten Erhebungen stehen kleinräumig nicht zur
Verfügung. Das gilt auch für die derzeitig stattfindenden Zensus.
Daher wird zur Messung
von Armut auf der kommunalen Ebene in der Regel nur auf Daten zu den sozialen Transferleistungen
zurückgegriffen.
Aktualität
Die kommunalen
Daten liegen –bis auf wenige Ausnahmen- für das Jahr 2010 vor. Einzelne Daten,
z.B. der Agentur für Arbeit, werden aktuell jeweils zum Monatsende geliefert.
Landes- oder
bundesweite Erhebungen bzw. Auswertungen beziehen sich auf weiter zurückliegende
Zeiträume (2008, 2009). Überregional verwertbare Daten zum Wohngeldbezug liegen
überhaupt nicht vor, da sich in den zurückliegenden Jahren mehrfach die
Voraussetzungen zum Wohngeldbezug geändert hatten.
V. Datenlage
Landkreis Coburg
Zur Definition von
Kinderarmut im Landkreis Coburg wird auf die vorliegenden Daten zu sozialen
Leistungen zurück gegriffen:
-
Bezug von Transferleistungen nach dem SGB II
-
Bezug von Wohngeld bzw. Lastenzuschuss
-
Übernahme der Gebühren für die
Kindertagesbetreuung, sowie
-
Verschuldete Familien in der Sozialpädagogischen
Familienhilfe.
2010 lebten 1.154
unter 18 jährige in Haushalten, die Wohngeld oder einen Lastenzuschuss
erhielten; weitere 987 Minderjährige lebten in Familien mit SGB II Bezug.
Gemessen an ca.
15.000[1]
im Landkreis lebenden Kindern und Jugendlichen, entspricht dies einer
Kinderarmutsquote von 14,3 %. Sie
liegt damit um mehr als 2 Prozentpunkte über dem bundesdeutschen Durchschnitt.
Daten zu Kinderarmut
in Familien, die ihren Lebensunterhalt mit eigenem Einkommen bestreiten, liegen
aus den in Pkt. IV erläuterten Gründen nicht vor.
Dennoch kann auf
zwei weitere Datenquellen bzw. qualitativen Problemanzeigen zurück gegriffen
werden, um zu verdeutlichen, dass auch Kinder außerhalb sozialer
Transferleistungen mit Armutsproblemen konfrontiert sind.
Familien mit
geringem Einkommen
Die Übernahme von
Gebühren zum Besuch von Kindertageseinrichtungen richtet sich nach den Einkommensgrenzen
des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII).
Danach sind diese
Gebühren ganz oder teilweise zu übernehmen, wenn das Einkommen unterhalb im SGB
XII festgelegter Grenzen liegt. Konkret heißt das, dass
-neben den Kosten
für die Unterkunft- 728 € für den Haushaltsvorstand und 255 € für jeden
weiteren Haushaltsangehörigen unterschritten werden müssten, um die
Kinderbetreuungskosten zumindest teilweise erstattet zu bekommen.
Beispiel:
Ein Ehepaar mit 2 gemeinsamen
Kindern zahlt 423 € Miete. Für den Haushaltsvorstand werden 728 €, für den
anderen Elternteil und die 2 Kinder zusammen 765 € (3 x 255 €
Familienzuschlag). Die Einkommensgrenze für die Übernahme der
Kinderbetreuungskosten liegt in diesem Fall bei 1.916 €[2].
In 2010 haben von
482 Kindern in Kindertagesstätten, in denen die Kosten für das Mittagessen übernommen
wurden, 56 keinen Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepakets. Diese Familien
erfüllen also die Voraussetzungen für SGB II-Leistungen, Wohngeld und
Kinderzuschlag nicht, gelten aber –siehe Beispielsrechnung- als arm.
Hochgerechnet würde
das bedeuten, dass 1,4 % der im
Landkreis lebenden 0-6 jährigen Kinder[3]
in Familien mit geringem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze leben.
Überschuldete
Familien
Die
Sozialpädagogische Familienhilfe der Caritas wird insbesondere dann in Familien
eingesetzt, wenn der Erziehungshilfebedarf an eine Verschuldungsproblematik
gekoppelt ist.
Die Caritas war in
2010 in 21 Familien eingesetzt, auf die diese Beschreibung zutrifft.
75 % der Familien
standen (und stehen) im Leistungsbezug nach SBG II oder Wohngeldgesetz, 25 %
leben vom Erwerbseinkommen der Eltern.
Die
Armutsproblematik in der Familie unterschied sich nicht, da das „überschüssige“
Geld aus dem Erwerbseinkommen nicht den Kindern zugute kam, sondern zur
Schuldenregulierung eingesetzt werden musste.
Aus dieser Erhebung
lässt sich keine statistisch verwertbare Größe ableiten. Sie ist allenfalls ein
Blitzlicht auf einen ebenfalls der Armut zuzurechnenden Personenkreis.
VI. Auswirkungen
von Armut – grundsätzliche Erkenntnisse
„Frühe und anhaltende familiäre Armut
bestimmt die wesentliche Lebenssituation der Mädchen und Jungen und wirkt sich
in allen Lebenslagen aus.“
„Je früher und je länger Kinder unter
Armutsbedingungen aufwachsen, desto größer sind die negativen Auswirkungen auf
ihren Entwicklungsverlauf und die Zukunftschancen.“
„Die Entwicklung der Kinder zeigt sich sehr
differenziert, es gibt keine Automatismen zwischen familiärer Armut und
kindlichen Defiziten, aber enge Verbindungen.“
Auszüge aus der AWO-ISS-Langzeitstudie
„Kinder- und Jugendarmut“
Mögliche
Auswirkungen von Armut sind Fehl- und Mangelernährung, psychische Störungen
u.a. aufgrund von Stress, motorische Störungen, Übergewicht,
Sprachentwicklungsstörungen, Entwicklungsrückstände, eine defizitäre Förderung
durch das Elternhaus oder beengte Wohnverhältnisse. Langfristige
gesundheitliche Schädigungen oder problematische Schulverläufe sind Folgen
dessen.
Aber: Armut kann
zwar negative Konsequenzen für die Entwicklung von Kindern haben. Ob es aber
tatsächlich zu Problemen kommt, hängt von weiteren Faktoren ab. Zum einen
korrelieren Armut und niedriger Bildungsgrad, psychische Erkrankung oder
Überforderung und weitere Risikofaktoren miteinander und lösen gehäuft erst in
der Summe negative Wirkungen aus. Zum anderen wirken Schutzfaktoren wie ein
positives Temperament oder eine enge und tragfähige Beziehung zu den Eltern
mildernd auf die Folgen materieller Armut.
VII. …
und wie sieht es im Landkreis Coburg aus ?
Es gibt keine
repräsentativen Zahlen zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Kinderarmut
–weder bundesweit, noch kleinräumig.
Die in Pkt. VI
beschriebenen Auswirkungen basieren auf Studien. Unzweifelhaft sind diese
Erkenntnisse deshalb auch auf den Landkreis Coburg übertragbar.
Weitere materielle
Hilfen
Alleinerziehende mit
einem Kind unter 12 Jahren können –soweit der andere Elternteil keinen oder
keinen ausreichenden Unterhalt zahlt- für die Dauer von max. 72 Monaten Unterhaltsvorschuss-leistungen
beantragen. Für unter 6-jährige werden dabei 133 €, für 6 – 12-jährige 180 €
gezahlt.
Wenn das Einkommen
der Eltern nicht ausreicht und der junge Mensch keine Rücklagen hat, kann für
den Besuch von Berufsfachschulen, Fachschulen, Berufsaufbauschulen,
Berufsoberschulen und –unter bestimmten Voraussetzungen- weiterführenden
Schulen Ausbildungsförderung beantragt werden. Die maximale Fördersumme
beträgt monatlich 216 € bei Besuch einer Berufsfachschule bis hin zu 597 € für
Schüler/-innen einer Akademie.
Rückwirkend zum
01.01.2011 können Familien mit SGB II-, Wohngeld- und/oder Kinderzuschlagbezug
Leistungen aus dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket beantragen.
Dabei werden z.B.
das Mittagessen in Schule und Kindergarten, Ausflüge und die
Vereinsmitgliedschaft bezuschusst. Die genauen Leistungen sind der Anlage 1 zu
entnehmen. Aussagekräftige Zahlen zur Inanspruchnahme liegen derzeitig noch
nicht vor.
Für Kinder, die an
Schulfahrten, Ferienmaßnahmen und –betreuungen teilnehmen, kann ein Individualzuschuss
zu den Kosten bei der Kommunalen Jugendarbeit des Landkreises Coburg beantragt
werden. Voraussetzung ist, dass das Familieneinkommen 972 € für die Eltern plus
294 € für jedes Kind nicht überschreitet.
Neben stadt- und
gemeindebezogenen Hilfen sind in Stadt und Landkreis Coburg 3 Vereine aktiv,
Familien in prekären Situationen zu unterstützen: die Aktion Sterntaler,
der Verein für Jugend und Familie Stadt und Landkreis Coburg und der
neugegründete Verein „Hilfe für Nachbarn“. Diese Vereine werben
Spendengelder ein, die unbürokratisch Familien in Notsituationen zukommen.
Immaterielle
Unterstützung
Die Palette an
Angeboten im Landkreis Coburg reicht von den Frühen Hilfen der KoKi[4]
und den Netzwerkpartnern aus Jugendhilfe, Medizin und Bildung über den von den
Städten und Gemeinden vorbildlich umgesetzten Ausbau der Kinderbetreuung, der
Mittagsbetreuung an Schulen und den offenen und gebundenen Ganztagsschulen. Sie
setzt sich über die Angebote der Kommunalen Jugendarbeit, des Kreisjugendrings,
der zahlreichen Vereine und Verbände und nicht zuletzt der
Gemeindejugendpfleger fort. Der ASD ist vor Ort, im Sozialraum, tätig und damit
nah an der Lebenswelt der Familien.
Dieses „Netz“ ist
nicht wegen der Auswirkungen von Kinderarmut entstanden, sondern basiert auf
dem grundsätzlichen Auftrag der Jugendhilfe
…… junge Menschen in ihrer individuellen
und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu
vermeiden oder abzubauen….
…. dazu bei(zu)tragen, positive
Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien …. zu erhalten oder zu
schaffen.[5]
und richtet sich
somit an alle Kinder und ihre Eltern. Aber all diese Angebote und Aktivitäten
mindern die psychosozialen Auswirkungen von Armut.