Beschluss
Der Beurteilungsbogen zum Mehrbedarf nach § 33 Satz 2 SGB VIII ist ab dem 01.01.2024 anzuwenden und die finanziellen Leistungen sind anzupassen.
Sachverhalt
§ 33 SGB VIII Vollzeitpflege
Satz 2
„Für besonders
entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der
Familienpflege zu schaffen und auszubauen.“
Aktuell verwendet
der Landkreis Coburg den „Bewertungsbogen Vollzeitpflege“ (siehe Anlage 1) zur
Beurteilung der Situation eines jungen Menschen in der Pflegefamilie und dem
daraus resultierenden evtl. erhöhtem Erziehungsbedarf. Das Ausfüllen erfolgt
regelmäßig, einmal jährlich in Kooperation mit der Pflegefamilie und beschreibt
den aktuellen Stand. Dabei werden Punkte von 0 – keine Belastung bis 3 – sehr
hohe Belastung verteilt. In der Summe ergibt dies dann die Einstufung für den
erhöhten Erziehungsbedarf, der sich am Erziehungsbeitrag für Pflegeeltern
orientiert.
ab 40 Punkte – 120 €
ab 50 Punkte – 230 €
ab 60 Punkte – 350 €
Dies wurde dem
Ausschuss zuletzt am 25.04.2019, Vorlage 051/2019, in Zusammenhang mit der
Erhöhung des Erziehungsbeitrags dargelegt. Die Zahlungen erfolgen zusätzlich zu
der Pflegepauschale monatlich.
Das statistische
Bundesamt berichtet von steigenden Fallzahlen im Bereich der Vollzeitpflege
nach § 33 SGB VIII. Waren es im Jahr 1991 ca. 44.000 Kinder und Jugendliche,
stieg die Zahl im Jahr 2017 auf ca. 75.000 und bis 2021 noch einmal auf ca.
87.300 (Pressemitteilung Nr. 454 des statistischen Bundesamtes vom 27. Oktober
2022 sowie aerzteblatt.de vom Februar 2019).
Pflegekinder haben vor ihrer Unterbringung
in einer Pflegefamilie oft schon einen langen Leidensweg hinter sich. Etwa weil
die Mutter während der Schwangerschaft geraucht, Alkohol, Medikamente und
Drogen konsumiert hat, weil der Säugling materiell und emotional vernachlässigt
und unzureichend gefördert wurde oder weil die Eltern von psychischen Störungen
betroffen sind.
Pixabay
Viele Pflegekinder
erleben über Jahre hinweg Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlungen – mit
schwerwiegenden Folgen: Pflegekinder zeigen im Vergleich zu Kindern aus Normalfamilien
mehr Auffälligkeiten. Dazu zählen aggressives und delinquentes Verhalten,
Regelverletzung, Verweigerung, soziale Probleme, motorische Unruhe,
hyperkinetische Störungen und Konzentrationsschwierigkeiten, oder aber
Depressionen und Ängstlichkeit. Darüber hinaus sind diese Kinder häufig von posttraumatischen
Belastungsstörungen, Entwicklungsrückständen, einem negativen Selbstbild,
Lernproblemen und Bindungsstörungen betroffen. Diese Kinder haben einen hohen
Bedarf an Behandlung und therapeutischer Begleitung.
Kinder, die in
Pflegefamilien untergebracht werden, stellen somit hohe Anforderungen und brauchen
sehr viel Aufmerksamkeit, was mit einer Berufstätigkeit nicht immer vereinbar
ist. Die Pflegefamilie muss ihren privaten Bereich öffnen und Kontakte mit
Jugendhilfe und Herkunftsfamilie tolerieren.
Aber, oder
nichtsdestotrotz: Soziales Verantwortungsbewusstsein ist u.a. die Motivation,
sich der Not eines „fremden“ Kindes anzunehmen. Kinder sorgen für positive
Erfahrungen und machen Familien „vollständig“.
Pflegekinder
erfahren in Pflegefamilien Fürsorge, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Förderung. Einen
Beleg hierfür liefert eine Langzeitstudie, die von der Pädagogin Dr. phil.
Daniela Reimer und der Sozialpädagogin Corinna Petri von der Universität Siegen
durchgeführt worden ist. Die beiden Wissenschaftlerinnen fanden heraus, dass
Kinder in Pflegefamilien, die ihnen zum Beispiel eine gute Erziehung und
Ausbildung angedeihen lassen, eine nachhaltig gute Entwicklung nehmen können (Deutsches
Ärzteblatt, 02/2019).
CleanPNG
Damit
Pflegefamilien zu einem sicheren Ort werden können, an dem traumatisierte
Kinder Geborgenheit und emotionale Unterstützung durch die Pflegeeltern
erleben, benötigen diese eine gute Begleitung zeitgleich aber auch eine gewisse
Entlastung.
Die Zahlungen im
Rahmen eines erhöhten Erziehungsbedarfs dienen u.a. hierzu.
Der Bay. Städte-
und Landkreistag hat in seinen Empfehlungen einen neuen Beurteilungsbogen
„Sonderpflege-Mehrbedarf“ aufgenommen. Dieser sowie die dazugehörigen
Ausführungen sind als Anlage 2 + 3 beigefügt. Der bisherige Bogen ist nicht
mehr zeitgemäß und nicht differenziert genug. In einem zweijährigen Prozess
unter Beteiligung des AK Pflegekinderwesen Niederbayern-Ost und später unter
der Federführung der Landkreise Regen und Rottal-Inn wurde der neue
Beurteilungsbogen entwickelt. Dieser ist mit dem Bayerischen Landesjugendamt
abgestimmt und wissenschaftlich durch das Institut Centouris der Universität
Passau begleitet, ausgewertet und überarbeitet.
Im Unterschied zum
aktuell verwendeten Bewertungsbogen beschreibt dieser die Belastungsfaktoren
noch einmal konkreter und umfassender, ist in 11 Bereiche aufgeteilt und fragt
104 Merkmale ab. Eine Bepunktung erfolgt durch die Fachkräfte in Zusammenarbeit
mit den Pflegeeltern von 0-6, eine Entscheidung über Gewährung oder Ablehnung
obliegt dem zuständigen Jugendamt.
Bei der
Bemessungsgrundlage wird auch hier der Erziehungsbeitrag = 350,00 € aktuell,
herangezogen. In der Beurteilung sind somit höchstens 624 Punkte erreichbar. Um
einen Mehrbedarf gewähren zu können, muss eine Punktzahl von mind. 50 erreicht
werden, in diesem Fall erfolgt eine Zahlung in Höhe eines halben
Erziehungsbeitrags = 175,00 €. Die Obergrenze wird bei 200 Punkten erreicht,
was eine mtl. Zahlung in Höhe des doppelten Erziehungsbeitrags = 700,00 € zur
Folge hat. Dazwischen erfolgt eine lineare Erhöhung, die aus der Tabelle in
Anlage 3 zu entnehmen ist.
Die Entwicklung im Bereich der Pflegekinder sowie die Rückmeldungen der Pflegefamilien zeigen, dass die Bedarfe gestiegen sind, die Belastungsfaktoren für die Kinder zugenommen haben und die Pflegeeltern Entlastung erfahren müssen, um „ihren“ Kindern ein gedeihliches Umfeld bieten zu können. Notwendige Unterstützungsangebote wie Therapien, besondere Förderangebote, medizinische Versorgungsleistungen müssen organisiert und finanziert werden. Oder es ist ein Ausgleich für reduzierte Arbeitszeit, für die Beschäftigung einer Reinigungskraft, um Zeit für das Pflegekind zu haben.